Sendung – Rote Rosen (1492) am Di., 04.11.2025 – ONE
Gerda atmet schwer, die feuchte, modrige Luft des alten Speichers brannte in ihrer Lunge. Die einzige Lichtquelle war ein kleiner Spalt im vergitterten Fenster hoch oben, der einen schmalen, tanzenden Lichtkegel auf den staubbedeckten Holzboden warf. Überall roch es nach altem Holz, Spinnweben und einer unterschwelligen, metallischen Note – dem Geruch von Angst.
Sie presste ihre Hände auf ihren Mund, um einen erstickten Schrei zu unterdrücken, als ein lautes, knarrendes Geräusch von unten heraufdrang. Jemand war im Haus. Jemand, der nicht hätte hier sein dürfen. Es war dieselbe Person, die sie seit Wochen verfolgte, deren Schatten sie in jedem Winkel Lüneburgs gespürt hatte.
Gerda war in einer Sackgasse. Der Speicher war ein Gefängnis ohne Schlüssel. Sie kroch hinter einen Stapel alter, von Motten zerfressener Koffer, ihr Herz hämmerte so laut gegen ihre Rippen, dass es ihr in den Ohren dröhnte. Sie versuchte, ihren Atem zu verlangsamen, sich so klein wie möglich zu machen, sich in die Dunkelheit zu integrieren.

Das Knarren der Dielen wurde lauter, rhythmischer, unaufhaltsam. Es war ein schwerer, gemessener Schritt, der keine Eile verriet, sondern eine kalte, berechnende Entschlossenheit. Die Stufen zur Speichertür quietschten. Eins… zwei… drei… Gerda zählte automatisch mit, eine nutzlose Ablenkung vom drohenden Unheil.
Der Griff der Speichertür klapperte. Er wurde langsam, quälend langsam heruntergedrückt. Ein goldener Lichtstreifen erschien unter dem Türspalt, und der Schatten eines großen Mannes fiel in den Raum. Gerda spürte, wie ihr kalter Schweiß auf ihrer Stirn gefror. Sie erkannte den Schatten. Die breiten Schultern, die leicht geneigte Haltung. Es war Erik.
Aber warum? Erik, ihr Freund, der immer so sanftmütig, so verlässlich war. Er hatte ihr geholfen, sich hier zu verstecken, ihr geholfen. War es ein Fehler gewesen?
Die Tür schwang mit einem leisen Ächzen auf. Erik trat ein. Er trug einen langen, dunklen Mantel, dessen Kragen hochgeschlagen war. Sein Gesicht war eine maskenhafte Mischung aus Schatten und kaltem Licht, unleserlich, unheimlich. In seiner Hand hielt er keine Waffe, sondern etwas viel Schlimmeres: ein kleines, silbernes Medaillon, das Gerda seit ihrer Kindheit vermisst hatte.
“Gerda,” sagte er, seine Stimme war tief, aber ohne jegliche Wärme. Sie hallte in dem kleinen Raum. “Ich wusste, dass du hier bist. Du bist immer so vorhersehbar gewesen.”
Gerda zitterte, aber sie fand plötzlich ihre Stimme wieder, heiser und kaum mehr als ein Flüstern. “Erik… was machst du hier? Was soll das?”
Er ging langsam auf den Stapel Koffer zu, seine Schritte waren die eines Jägers, der weiß, dass seine Beute gefangen ist. “Ich hole nur, was mir gehört, Gerda. Das, was du mir gestohlen hast.” Er hielt das Medaillon hoch. “Dieses kleine Ding. Das wahre Erbe der Reichenbachs. Du dachtest, du könntest es behalten und mit einem neuen Leben davonkommen, nicht wahr?”
“Ich habe es nicht gestohlen,” keuchte sie. “Deine Großmutter… sie hat es mir gegeben! Sie sagte, ich sollte es sicher verwahren, falls…”
“Falls was?” unterbrach Erik sie scharf, und zum ersten Mal blitzte reine Wut in seinen Augen auf. “Falls ich es in die falschen Hände fallen ließe? Ich bin der letzte der Reichenbachs, Gerda! Ich bin das Erbe!”
Er machte einen weiteren Schritt, und Gerda spürte den Drang, aufzuspringen und zu rennen, aber ihre Beine waren wie gelähmt. Das Adrenalin pumpte durch ihren Körper und ließ ihre Glieder kalt und schwer werden.
“Du hast unsere ganze Familie belogen,” sagte Erik, seine Stimme wurde leiser, fast zärtlich, was noch beängstigender war. “Du hast gespielt, als wärst du eine von uns. Du hast mir in die Augen gesehen und mir versichert, dass du mich liebst. Eine perfekte Täuschung.”
Gerda schüttelte den Kopf, Tränen brannten in ihren Augenwinkeln. “Ich habe dich geliebt, Erik. Das war echt.”
“Nein,” erwiderte er, seine Mundwinkel verzogen sich zu einem unheimlichen Grinsen. “Du hast das gespielt, was du am besten kannst: Die verzweifelte Erbin. Aber ich habe die Wahrheit herausgefunden. Ich weiß, wer du wirklich bist, Gerda. Oder sollte ich sagen… Frau Gruber?”
Dieser Name. Er traf sie wie ein Schlag in die Magengrube. Nur eine Person kannte diesen Namen.
“Was… woher weißt du…”
“Die Archive lügen nicht,” sagte Erik, sein Grinsen wurde breiter. “Deine kleine Fluchtgeschichte. Deine ‘neue Identität’. Alles Unsinn. Du bist hierhergekommen, um dieses Medaillon zu finden, weil deine Familie wirklich dachte, es sei ein Schlüssel. Aber es ist nur eine symbolische Geste… es sei denn…”
Er trat noch einen Schritt näher. Er war jetzt so nah, dass sie seinen Geruch riechen konnte – frisch, nach Zeder und einem Hauch von Gefahr. Seine Augen bohrten sich in ihre.
“…es sei denn,” fuhr er fort, ein teuflischer Glanz in seinen Augen, “es sei denn, ich mache es zu etwas mehr.”
Plötzlich holte Erik etwas aus seiner Manteltasche hervor. Es war eine kleine, hölzerne Schatulle, die auf der Oberseite mit denselben seltsamen, verschlungenen Mustern graviert war, die auch auf der Rückseite des Medaillons zu finden waren.
“Dein Medaillon passt hier perfekt hinein,” sagte er. “Und ich habe lange gesucht, um herauszufinden, was passiert, wenn man es tut.”
Er öffnete die Schatulle. Darin war eine tiefe, medaillonförmige Aussparung, die perfekt in die Vertiefung passte. Gerda sah Entsetzen, wie er das silberne Stück in die Aussparung legte.
Im selben Moment, als es einrastete, ertönte ein leises, mechanisches Klicken. Das Licht im Speicher, das bisher nur ein schmaler Streifen gewesen war, begann, heller und unnatürlicher zu flackern. Die Luft wurde spürbar kälter, und ein tiefes, brummendes Geräusch schien aus den Fundamenten des Hauses aufzusteigen.
Erik drehte sich um, sein Gesicht war nun von einem fanatischen, unheimlichen Glück beleuchtet. “Es funktioniert! Das Portal!”
Gerda stieß einen Schrei aus. “Portal? Worüber redest du?”
Der Lichtschein aus dem Fenster verschwand, ersetzt durch ein pulsierendes, dunkelblaues Glimmen, das aus der Schatulle strömte. Das Brummen wurde zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen. Staub tanzte wild im unnatürlichen Licht, und die Holzdielen begannen spürbar zu vibrieren.
“Die Großmutter hat dir die Wahrheit nie gesagt, Gerda,” rief Erik über den Lärm. “Dieses Medaillon war kein Erbe, es war ein Schlüssel! Ein Schlüssel zu einem Ort, an dem die Reichenbachs wahre Macht besaßen! Und jetzt, wo du mir geholfen hast, es zu aktivieren…”
Er sah sie an, und in diesem Blick lag keine Liebe mehr, kein Hauch von Vergebung, sondern nur noch eisige, tödliche Absicht.
“…bist du überflüssig.”
Erik hob die Schatulle, das dunkelblaue Licht tanzte in seinen Augen. Er machte einen schnellen Schritt auf Gerda zu, die immer noch hinter den Koffern kauerte, ihre letzte Hoffnung schwindend wie das normale Licht in diesem Raum.
“Verzeih mir, Frau Gruber,” flüsterte er, fast bedauernd. “Aber es ist an der Zeit, dass du deine wahre Vergangenheit triffst.”
Die Schatulle senkte sich. Gerda schloss die Augen, bereit für den Schlag, bereit für das Unvermeidliche, bereit für die Dunkelheit, die sie nun umgab.
Gerda stieß einen lauten Schrei aus, als die Kälte des dunklen blauen Lichts sie traf, ein Schrei, der in dem dröhnenden Lärm des Speichers unterging. Aber es war nicht das Geräusch des Schlages, das sie hörte, sondern ein neues, metallisches Kreischen. Der Boden unter ihr hörte auf zu vibrieren. Das blaue Licht flackerte und erlosch.
Gerda riss die Augen auf. Erik lag am Boden, die Schatulle war ihm aus der Hand gefallen. Das Medaillon glänzte im schwachen Licht des Fenstergitterspalts, aber das unheimliche blaue Glimmen war verschwunden.
Über Erik stand Dr. Steinfeld, der elegante Hotelbesitzer, dessen Gesicht normalerweise von einer ruhigen Maske bedeckt war, aber jetzt von Entschlossenheit und Wut verzerrt war. In seiner Hand hielt er einen schweren, bronzenen Kerzenständer.
“Ich wusste, dass mit dir etwas nicht stimmt, Erik,” sagte Dr. Steinfeld, seine Stimme klang heiser. “Ich habe dir nicht vertraut, seit du das erste Mal Gerda angelächelt hast.”
Erik stöhnte und versuchte, sich aufzurichten, aber Dr. Steinfeld trat ihm auf die Hand, die nach der Schatulle griff.
“Es ist vorbei,” sagte Dr. Steinfeld. Er sah zu Gerda, seine Augen waren voller Sorge. “Kommen Sie, Gerda. Wir müssen hier raus. Jetzt.”
Gerda stolperte hervor, ihr Körper zitterte unkontrolliert. Sie ergriff die ausgestreckte Hand von Dr. Steinfeld, aber in dem Moment, als ihre Finger seine berührten, stieß Erik einen brutalen Schrei aus und riss sich los.
Er griff nach dem Medaillon, das immer noch perfekt in der Schatulle lag.
“Nein!” schrie Gerda und versuchte, ihn zurückzuhalten, aber Erik war schneller.
Er hob die Schatulle in die Höhe und schmetterte sie mit aller Wucht gegen die Wand.
Das Medaillon splitterte mit einem scharfen, krachenden Geräusch. Das Holz der Schatulle zerbrach. Das blaue Licht kam zurück, diesmal wild, unkontrolliert und explodierend.
Erik lächelte. Ein Wahnsinns-Lächeln. “Wenn ich es nicht haben kann, hat es niemand!”
Die letzte Erinnerung, die Gerda hatte, bevor das gleißend-blaue Licht alles verschluckte, war das schockierte, panische Gesicht von Dr. Steinfeld, der sie zurückzog, und das ohrenbetäubende Geräusch, als die Speichertür mit einem apokalyptischen Krachen zerbarst.